Nachruf Thomas Reim
Die Fakultät für Humanwissenschaften der Otto-von-Guericke-Universität Magdeburg trauert um Dr. Thomas Reim, der viele Jahre im Bereich Soziologie tätig war und hier in einem entscheidenden Ausmaß das Profil der Mikrosoziologie prägte. Thomas Reim genoss hohes Ansehen bei den Kolleg:innen und bei den Studierenden. Insbesondere sein starkes Interesse für die Förderung junger Studierender und Forschender machte ihn zu einem besonderen akademischen Lehrer, der durch eine Vielzahl von studentischen Lehrforschungsprojekten, speziell im Rahmen von Forschungswerkstätten, nicht nur die qualitative Methodenausbildung in Magdeburg in besonderer Weise prägte, sondern auch den Weg vieler junger Menschen in die Wissenschaft ebnete. Aber nicht nur Studierende, auch Kolleg:innen fanden in Thomas Reim stets einen geduldigen und völlig unprätentiösen Zuhörer und auch Ratgeber mit einem Blick für die weniger offensichtlichen (Macht-)Mechanismen der sozialen Welten und sozialen Arenen.
Thomas Reim hat als exzellenter Methodenspezialist für die Biographieforschung, für die Gesprächssanalyse, für die Grounded Theory, um nur einige Ansätze zu nennen, für die er eine besondere und unnachahmliche empirische Sensibilität mitbrachte, mit einem herausragenden Blick für die Aussagekraft qualitativ-empirischer Daten. Mit seiner rd. eintausend Seiten langen, leider als Buch unveröffentlichten Dissertation über die Entwicklung der Suchtkrankenhilfe und über ihre Gestalter[1] hat er Maßstäbe für die Untersuchung von biographischen und sozialweltlichen Professionalisierungsprozessen auf der empirischen Grundlage von autobiographisch-narrativen Interviews gesetzt. Die Portraitkapitel in der Dissertation sind von außerordentlicher Tiefenschärfe und Differenziertheit. Methodisch ist noch zusätzlich hervorzuheben, dass Thomas Reim in seiner Dissertation die Durchführung des autobiographisch-narrativen Interviews auch auf die empirische Erhebung (und Analyse) der Einzelfall-Therapiearbeit aus der Perspektive der professionellen Suchtkrankentherapeut:innen – als abgegrenzten Teilbereich des Gesamtinterviews mit der jeweiligen Informant:in im Sinne einer grundsätzlichen gegenständlichen Erweiterung des narrativen Interviews hin auf die Erhebung und Analyse professioneller Arbeit - ausgedehnt hat. Thomas Reim half auf diese Weise wesentlich dabei mit, den work studies über professionelle Arbeit eine zusätzliche methodische Vorgehensweise auf der empirischen Grundlage retrospektiven Stegreiferzählmaterials zu eröffnen.
Auch später hat Thomas Reim in seiner eigenen Forschung wichtige biographieanalytische Beiträge zu Professionalisierungsprozessen und Problemstellungen professionellen Handelns und zu methodischen und grundlagentheoretischen Fragen geliefert. (Ein großes Manuskript zu Verlaufskurven lag seit längerer Zeit in seiner Schreibtischschublade.) Seine Beschäftigung mit der Analyse professioneller Arbeit geschah auch noch kontinuierlich nach seiner Verrentung und bis zu seinem Lebensende. Gerade seine letzten Jahre waren davon geprägt, dass er eng mit deutschen und schweizerischen Kolleginnen kooperierte und in Forschungswerkstätten zusammenarbeitete. Und ganz selbstverständlich begleitete er weiter regelmäßig Doktorand*innen in einer Online-Forschungswerkstatt.
In seiner ruhig-geduldigen Didaktik hat Thomas Reim unzählige Studierende und Nachwuchswissenschaftlerinnen und -wissenschaftler für die qualitative Sozialforschung begeistert und auf ihrem Weg begleitet. Er verstand es, auf eine außergewöhnliche Art trockenen und abstrakten Theorien Leben einzuhauchen und diese an die empirische Lebenswirklichkeit zurückzubinden. Dies werden wir sehr vermissen und darüber hinaus seine Neigung, sich selbst nicht so wichtig zu nehmen und dafür dem Wissenschaftssystem auch stets kritisch den Spiegel vorzuhalten.
Wir denken an Thomas Reim in seiner hintergründig-humorvollen Art, die laute Töne scheute, dabei aber umso mehr Sinn für die skurrilen, oft erst auf den zweiten Blick wahrnehmbaren Schichten der sozialen Realität offenbarte, und werden ihn sehr vermissen. Es war ein Privileg, mit Thomas arbeiten und forschen zu können. Er hat den kollegialen und interdisziplinären Austausch geschätzt und prägte die Fakultät, das Institut für Gesellschaftswissenschaften, das Zentrum für Sozialweltforschung und Methodenentwicklung, für welches er jahrelang Methodenworkshops und Forschungswerkstätten anbot, nachhaltig.
Wir vermissen einen geschätzten Kollegen und Freund.
Magdeburg, den 30.09.2024